Der Nachhauseweg – für mich immer eine gute Gelegenheit, um mit den Schritten auch die Gedanken laufen zu lassen:
„Ein Tag im Dezember. Die Sonne ist schon fast untergegangen, ein Blick auf meine Uhr verrät den Grund: schon sechs Uhr. So war das nicht geplant. Ich war wieder einmal die letzte im Büro. Da spricht keine Leidenschaft, sondern Verantwortungsbewusstsein, innerer Druck, vielleicht auch ein bisschen Schuldgefühle. Der innere Kampf, der sich da in meinem Laptop-Bildschirm abspielte: hin- und hergerissen zwischen „jetzt werde doch endlich mal fertig. Bringe zumindest diese eine Aufgabe, den Aufbau von Mphamvu-now, erfolgreich über die Bühne. Dann hast du was geleistet. Es ist doch auch gar nicht so uninteressant.“ und „ich habe wirklich überhaupt keine Lust. Dieses trockene Lernen, das wollte ich doch hinter mir lassen. Ich träume mich lieber weg. Dieser Moment ist doch mein Leben, der soll doch schön sein!“ Prokrastination aus Motivations- und Inspirationsmangel, das konnte ich auch in Kollegen beobachten. Kein Funding, keine Projekte, keine Team-Meetings, eine Untergangsstimmung hing wie ein Schleier über dem Office. Die Hungerphase einfach aussitzen bis bessere Zeiten kommen, kann eine Strategie sein. Aber doch nicht für eine Freiwillige wie mich, die nur dieses eine Jahr hat, dieses eine Jahr, um all die Erwartungen und Wünsche zu erfüllen, das traditionelle Malawi kennenzulernen, echte Verbindungen zu knüpfen, Denkanstöße und Inspiration zu sammeln. 6 Uhr – wieder einmal hatte die Arbeit meine ganze Zeit geklaut. Keine Zeit, um Veränderung zu bringen. Wo gehe ich gerade etwa hin? – in meine einsame Wohnung, von der ich mich emotional schon vor Monaten verabschiedet hatte. Immer noch. Obgleich ich dadurch interessante Einblicke sammelte, war die Wohnungssuche bisher fruchtlos geblieben. Immer noch. Über all diesen Sorgen und Zweifeln der Versuch, trotzdem positiv zu denken, schließlich entstammt Leiden in erster Linie nicht der Situation, sondern den Gedanken über ebenselbe. Ich fühle mich vielleicht jetzt gerade, als würde die Arbeits- und Wohnsituation meine Flamme zu ersticken drohen, aber am Horizont, da kündigt sich Frischluft an.“
Der erste Windstoß kam kurz nach Weihnachten, als ich mich nach langem Hin und Her dazu entschloss, authentisch Malawi beiseite zu lassen und mit anderen Freiwilligen an eine sehr abgelegene Lodge am See zu fahren. Hier, mit Menschen der gleichen Wellenlänge in den Wellen des Wassers und mit rein überhaupt keinen Aufgaben und Verpflichtungen, fand ich mich endlich in einem Umfeld wieder, das mich glücklich macht. Nicht von Dauer natürlich, aber einen kleinen Aufschwung gab diese Auszeit schon. Die Rückkehr kam mit Frustration, aber auch einer ernsthaften Entschlossenheit. Es muss sich etwas ändern, so kommunizierte ich erstmals wirklich offen mit meinem Chef Devine. Doch ich musste feststellen, dass meine Probleme nicht der Mittelpunkt waren, Renama an sich steckte wirklich in einer ernsthaften Lage. Ich sah einer Entscheidung ins Auge: alles dafür tun, das sinkende Schiff wieder ans Laufen zu bringen oder abspringen? Und ich sah wieder weg. Ich wollte sie nicht verlassen, aber ich brauchte erstmal ein bisschen Abstand, ein bisschen Luft zum Atmen.
Da kam der nächste Windstoß wie gerufen: ich verbrachte eine Woche als Art Praktikum auf der ökologischen Ausbildungsfarm Kudzidalira pa moyo, wo einfache, junge Menschen transformiert werden, die Natur und deren Ressourcen als Geschenk Gottes zu sehen und sie dementsprechend nachhaltig für Nahrung und Medizin (Zentrum von Anamed) zu nutzen. Ich fand inspirierende, liebe Leute meinen Alters, mit denen man einfach eine gute Zeit hat, ich fand praktisches Arbeiten an der frischen Luft, ich fand kritische Auseinandersetzung mit der malawischen Kultur, dem Grund und den Verstärkern von Armut, die ich wiederum hinterfragen konnte. Eine wirklich bereichernde Erfahrung.
„Ende Januar. Ich bin wieder auf dem Nachhauseweg, wenn man es so nennen möchte. Mein Zuhause liegt für eine Woche bei einer Freundin, die mir ein Bett in ihrem Zimmer angeboten hatte. Ich weiß noch nicht, ob ich hierbleibe. Aber das ist egal. Denn für den Moment ist es schön, wieder von Menschen umgeben zu sein, zu erzählen können, wie die Arbeit so war. Und wie war sie denn? Ich hatte Gespräche mit Devine und mit der Gründerin Renamas und Chefin von ecoLODGy Martina. Mphamvu-now hatte ich mehr oder weniger erfolgreich über die Bühne gebracht. Der Abschlussapplaus lässt noch auf sich warten, vielleicht da sich der Regisseur schon während des Stücks langsam rausschlich und deshalb keine Zugabe gibt. Ich sehe wieder Perspektiven. Wir sprachen ein paar überschaubare Projekte an, die ich in Angriff nehmen könnte: eine Woche bei den Farmern auf dem Dorf leben, ein Video zu einem Pilotprojekt drehen, ein Video zu unserem Energiekiosk, ebenfalls mit Aufenthalt auf dem Dorf. Ich weiß noch nicht, ob ich dauerhaft bei Renama bleibe, mehr zu ecoLODGy wechsle oder ganz woanders hin. Aber das ist egal. Denn für den Moment sehe ich interessante Eindrücke, fernab des Büros. Und eine Sache weiß ich: Es wird gut sowieso, denn ich lass es nicht mehr schlecht werden.“
Und so folgte ein Windstoß auf den nächsten. Eine Woche nach dem beschriebenen Nachhauseweg zog ich probeweise zu Alice und blieb dann einfach. Wir hatten uns zufällig bei einer Theateraufführung getroffen und eigentlich vom ersten Zeitpunkt an, eine Schwester und beste Freundin ineinander gefunden. Ihre ganze Familie gab mir ein unglaubliches Gefühl von Zuhause: der nahbare Vater mit den traditionellen Gitarrenklängen, die sorgende Mutter, der liebe, große Bruder zum Pferde stehlen, die interessierte, kleine Schwester, der noch kleinere Bruder. Endlich zuhause angekommen.
Und schon wieder weg. Denn es standen auch einige Unternehmungen an, die meinen Durst nach Forschen und Fragen stillen sollten. Als „mtsikana wakumudzi“ (Dorfmädchen) bei den Farmern. Als Journalistin eines Newsletters über alles Neue im Kochherd-Sektor in Lilongwe – mit Alice an meiner Seite (sie hatte gerade Semesterferien und wollte sich gerne bei einer NGO engagieren, na, das konnte besser nicht passen). Hier in Lilongwe fand ich nicht nur ein weiteres kleines Zuhause in der Wohngemeinschaft der Mitfreiwilligen Hannah, sondern traf auch eine Vielzahl interessanter Individuen. Als verantwortliche Planerin einer Feldstudie für Gasifier Herde mit einem flexibleren Arbeitsplan. Als forschende Praktikantin bei der lokalen Organisation Hope for Relief ganz im Norden Malawis. Als Kunstinteressierte bei Gedicht- und Musikaufführungen in Blantyre. Als Lenkerin meiner verbleibenden Zeit beim Zwischenseminar auf der Mushroomfarm. Ich war wieder frei, meine innere Flamme leidenschaftlich und optimistisch, liebend und hinterfragend züngeln zu lassen. Ganz unabhängig von einem Aufschwung bei Renama (der die ganze Zeit immer noch auf sich warten ließ. Zwischenzeitlich hatten beide Chefs den Schritt vollzogen, nur noch halbtags ins Büro zu kommen) hatte sich für mich persönlich eine ganz eigene Erfolgsgeschichte entsponnen.
„Anfang April. Die Sonne geht gerade unter. Das tut sie immer in spektakulären Farben hier in Chilomoni. Wenn Kelvin wieder da ist, artet diese Zeit des Tages bestimmt in Foto-Shootings aus. Vielleicht gehen wir ja auch mal wieder zusammen joggen. Ach, ich freu mich ja schon drauf, wenn ich Alice und Kelvin für ein paar Tage auf dem Campus besuchen werde. Um das Video zu schneiden, muss ich schließlich nicht im Büro sitzen. Wie entspannt mein Verhältnis zu Devine geworden ist. Vielleicht sieht er, dass ich am besten Leistung bringe, wenn ich meinen eigenen Weg gehen darf. Die Stimmung im Office war heute anders. Wir hatten das erste Team-Meeting der letzten acht Monate. Funding für ein neues Projekt steht vor der Tür. Und endlich teilten wir Erfahrungen, Erklärungen und Ideen. Die Untergangsstimmung ist jetzt verflogen und es kündigt sich der liebliche Duft von Aufbruch an. Es war aber auch der vorerst letzte Office Tag mit Alice. Sie geht morgen zurück zur Uni. Wir sind in Bewegung. Das Gefühl von Zuhause immer mit im Gepäck. Ich bin glücklich.“
Das wars mit meinem kleinen Lebensupdate. Morgen steht mein Rückflug nach Deutschland im Kalender, mein Nachhauseweg sozusagen. Wie glücklich bin ich, diesen verschoben zu haben. Als ich merkte, dass in Malawi mehr Erfahrungen auf mich warten als in acht Monate passen. Ein Jahr also. Wir sehen uns im August wieder. Und ich hoffe inständig, dass wir uns schon davor wieder hören. Wenn meine Schreiblust nicht wieder vor lauter Abenteuern begraben wird.
Liebe Grüße,
Johanna.
PS.: Das Rehkitz lebt immer noch, keine Sorge. Jedoch, wenn ich ganz genau hinschaue, irgendetwas stimmt da nicht: was macht es denn da oben hoch in den Lüften und, seit wann haben Rehe Flügel?! Tja, das ergab sich folgendermaßen: Das Rehkitz stand voller Anspannung vor dem Zaun. Es könnte jetzt abspringen, alles hinter sich lassen, noch einmal ganz neu starten. Das Dickicht war so fremd, so verlockend. Doch was würde dann mit der Erde auf dieser Seite geschehen, wer würde sich um sie kümmern, wenn nicht seine Hufe? Und was wäre mit diesen Kräutern, die ihm immer zu fressen gaben, die es so liebgewonnen hatte? „Du musst dich entscheiden, du kannst nicht auf allen Hochzeiten tanzen“, tönte die Stimme der alten Nachteule aus einem der Baumwipfel, „schließlich kannst du nicht fliegen wie unsereins.“ „Na, das wäre doch gelacht“, der rebellische Spirit unseres Rehkitzes war geweckt. Voller Optimismus hielt es sich zwei große Blätter an die Seiten, machte die Augen fest zu und schon trug es der erste Windstoß in die Lüfte. Und einer nach dem anderen, eröffneten sich ihm mehr Horizonte als es jemals zu Träumen gewagt hätte.